Rote Linien gibt es nicht

Männer seien weniger verletzlich als Frauen, heisst es. Sie können drum gut auf dünnen Matratzen in metallenen Bettgestellen schlafen, zwischen fensterlosen Betonmauern leben, mit rauschenden Lüftungsrohren über ihren Köpfen, jahrelang.

Vor zwei Monaten lernte ich einen Mann kennen, der seit vier Jahren mit dreissig anderen Männern unter dem Waldboden wohnt. Er geht gern rennen, an seinen Mitbewohnern vorbei, die den ganzen Tag auf Plastikstühlen vor dem Eingang sitzen. Das ist so vorgesehen, arbeiten dürfen sie nicht. Ab und zu kommt die Polizei vorbei und schaut nach dem Rechten. Einer, der mir mal seine ganze Hoffnungslosigkeit erzählte und dann still weinte, was uns bis heute verbindet, wohnt in einem Container, über den ständig die Flugzeuge fliegen. Auch so ein Ort, wo nur harte Männer es aushalten. Zwischendurch verbringen die Männer ein paar Monate im Gefängnis, weil sie nicht in diesem Land sein dürften, nicht mal in diesen Anlagen, in denen niemand wohnen will. Einer sagte mir, dass er das Gefängnis bevorzuge, wegen der netten Betreuung, den Fenstern, den Mahlzeiten und der Beschäftigung. Ein Mann hat ganz aufgehört zu reden. Wenn jemand ihn etwas fragt, lächelt er, sonst nichts. Dass dieses feine Lächeln Bestand haben kann, zwischen Bunker, Beton und Polizei! Das Lächeln in seinem lieben Gesicht ist aber auch so verloren.

Ich lerne immer wieder Menschen kennen, die in einer Notunterkunft leben müssen, auch Frauen und Kinder. Manchmal berührt mich jemand ganz besonders. Dann beginnt die Schraube zu drehen, die bei mir immer dreht, wenn ich etwas empörend finde. Ich denke: Jetzt reichts, das ist jetzt eine rote Linie, das müssen die Leute nur sehen, wissen, dann … 

In der Nacht denke ich, dass ich morgen ins Büro vom Regierungsrat laufe und auf den Tisch haue, bis er begreift, was er da verantwortet. Dann merke ich, dass ich dazu nicht den Mut habe. Dass es nichts bringen wird. Dass es kindisch ist. 

Ich werde vernünftig, überlege, was das beste Argumentarium wäre, welcher Akt des zivilen Ungehorsams Wirkung zeigen könnte, welche Zeitung diesen oder jenen andauernden Skandal aufdecken könnte. Ich stelle mir vor, wie ein wuchtiger Artikel, eine breit abgestützte Kampagne alle von diesem Unrecht in unmittelbarer Nähe erfahren lässt, und stelle mir vor, wie sich daraufhin eine Protestbewegung formt, die – in diesem Fall jetzt – die Bunkereingänge nachhaltig verstopft, bis das Nothilfesystem abgeschafft wird.

Dann sehe ich ein, dass dies alles nicht geschehen wird. Oder aber, viel ernüchternder noch, dass es alles schon geschehen ist. Und dass nichts – nichts! – schlimm genug ist, um per se einen Stopp von Unrecht zu erzwingen. Was schlimm ist, ist relativ. Die Grenze des Aushaltbaren ist verschiebbar, Gewöhnung immer zu haben.

Wenn wir bei der Arbeit dann eine Veranstaltung zum Nothilfesystem planen oder sogar eine Sitzung mit Vertreterinnen der Sozialdirektorenkonferenz ansteht, dann erhoffe ich mir nur das Realistische.

Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.